Zeugnis der (industriellen) Geschichte
Von Nicole Klappert
SauerlandKurier, 11.12.2016
Der Pfad ist steil. Oft müssen die Männer stehen bleiben, einigen ist elend. Sie werden Stillschweigen bewahren über diesen heißen Tag, an dem sie ihren Turnbruder zu Grabe trugen.
21 Jahre jung ist der Onkel von Lieselotte Heydorn, geborene Seidenstücker, und ihrem Bruder Rudolf, als er in der Lenne ertrinkt. Beerdigt wird er auf dem evangelischen Friedhof Auf der Hardt. Sein Sarg wiegt schwer auf den Schultern seiner Kameraden, nicht nur des Gewichtes wegen.
Wilhelm Hüttenhein wird sich indes kaum Gedanken darüber gemacht haben, wie er denn eines Tages hier hinauf gelangen würde, als er sich das Plateau hoch über dem Ort als Grabstätte, exklusiv für ihn selbst und seine Familie, aussuchte.
Als Fabrikant verfügte der Trockenbrücker Protestant mit Siegerländer Wurzeln über die nötigen Mittel für einen privaten Totenacker. „Der hatte Geld an den Füßen“, formuliert Artur Seidenstücker, einer der ersten, denen der SauerlandKurier auf seiner Spurensuche begegnet.
Während nun Hüttenheins Glaubensschwestern und -brüder aus einem großen Einzugsgebiet in Altenhundem beigesetzt werden mussten, würde er dank seines Geldes dort ruhen können, wo er eine neue Heimat gefunden hatte.
Denn einen eigenen Friedhof für die evangelische Minderheit von Grevenbrück gab es im 19. Jahrhundert nicht. Sich als Protestant bei den Katholiken bestatten zu lassen, das war jedoch indiskutabel, wie auch ein Bittschreiben an den Gustav-Adolf-Verein (Diaspora-Werk der Ev. Kirche in Deutschland) von 1859 belegt. Im heute befremdlichen Duktus jener Zeit, der doch ein klares Bild dessen vermittelt, was Christenmenschen unterschiedlicher Konfessionen voneinander hielten, steht geschrieben:
„(…) und da hier kein eigener Friedhof vorhanden ist, so können widerwärtige Kollisionen bei Beerdigungen kaum vermieden werden“.
Unternehmerfamilie Hüttenhein legte 1880 ihren Friedhof Auf der Hardt an, der deshalb auch ein Zeugnis der (industriellen) Geschichte des Ortes ist. Im Jahr 1920 ging er in den Besitz der ev. Gemeinde über, ab dann konnte jeder hier beerdigt werden. Weitere sieben Jahre dauerte es, bis die evangelische Kirchengemeinde Grevenbrück selbstständig wurde. Lieselotte Heydorn und ihr Bruder können sich lebhaft daran erinnern, wie sie als Kinder hinauf auf die Hardt mussten, um die Familiengräber zu pflegen. Da war der junge Onkel schon lange Jahre tot.
Ihre eigene Familie stammt aus Wittgenstein: „Uralte Evangelen hier!“, lacht Rudolf Seidenstücker. Die 77-jährige Lieselotte war, genau wie ihre Mutter, Presbyterin. „Ich musste von der Lomke aus zu Fuß auf die Hardt“, erinnert sie sich. Wasser gab es da oben keins, das nahm sie entweder aus dem „halben Haus“ an der Brücke mit oder von Molitors, jenem Gasthof, der ebenfalls nicht mehr existiert. Oma und Opa hätten sich sonntags aus Neugierde auf den Weg zu dem Friedhof gemacht, blickt ihr zwei Jahre älterer Bruder zurück. „Sie haben gesucht und gesucht, aber nichts gefunden, so dicht bewaldet war das.“ Das war, bevor die „Chemische“ im Tal dafür sorgte, dass auf der Hardt lange kaum noch etwas grünte. Heute hat die Natur vieles von dem, was noch Ende der 50er-Jahre ein Friedhof mit 300 Grabstätten auf sieben Feldern war, zurück erobert und einen verwunschenen, stillen und für manchen auch unvermuteten Ort geschaffen. Offiziell fanden die evangelischen Gemeindemitglieder hier bis 1962 ihre letzte Ruhe, wurden nur die Hüttenheins noch bis 1977 in ihrem Erbbegräbnis beigesetzt. Doch ein Blick ins kirchliche Register zeigt, dass für einige Jahre Beisetzungen parallel auf dem alten und dem 1962 am Hirtenberg eingeweihten neuen Friedhof erfolgten.
2014 wird der alte evangelische Friedhof auf Initiative des Heimat- und Verkehrsvereins Grevenbrück in die Denkmalliste der Stadt Lennestadt aufgenommen. In seinem Jahresheft, Ausgabe 2015/Nr. 34, widmet er dem historischen Areal zwei Seiten, in der Chronik „Gevore Förde Grevenbrück“ ist ebenfalls einiges zum Thema festgehalten. Wer heute auf die Hardt geht, stößt auf die Grabstätten der Hüttenheins und Eidens und auf die imposanten Grüfte der Schachtebecks, Girods und Wissmanns. Auch die Heydorns, deren Familie das Hotel Zur Post gehörte, liegen hier begraben.
Evangelische Eisenbahner- und Unternehmerfamilien wie die Hüttenheins waren es, die mit dem Bau der Ruhr-Sieg-Bahn aus dem Siegerland und aus Hessen in diesen Teil des Kreises kamen. Aloys Vogt, ein Ur-Grevenbrücker: „Schöne Häuser sind den Protestanten zu verdanken!“ Sie schufen jedoch nicht nur ansehnliche Gebäude, sie sorgten auch dafür, dass die Zeugen ihres (Wohl-)Standes als repräsentative Grabmäler ihren Tod überdauern sollten.
Ganz vorne, fast schon als Teil des Waldes, steht das Grabmal der Dickgräves, wo mit Frieda Dickgräve 1978 die wirklich letzte Verstorbene auf der Hardt beigesetzt wurde. Auch das Denkmal für die Toten des Ersten Weltkrieges gibt es noch. Eine morsche Ruhebank steht an dem steilen Pfad, der für lange Zeit der einzige Zuweg zu diesem Friedhof war.
Von diesen Ausbuchtungen gab es einige, daran kann sich Artur Seidenstücker gut erinnern, der als Junge den Friedhof „auf Vordermann“ bringen musste. Er weiß noch: „Da war ein großer Zaun davor, ein großes Tor.“
Jetzt bewachen nur noch Bäume und Sträucher die Anlage, ist der alte Pfad unter Herbstlaub kaum zu erkennen. Steil ist er nach wie vor. Es muss schwer gewesen sein, mit einem Sarg auf den Schultern hier herauf zu müssen. Schwer in jeglicher Hinsicht.
Die Aufnahme entstammt der Festschrift „50 Jahre evangelische Gemeinde“ von 1977.
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